Mein Vater war Redakteur beim „Reutlinger Generalanzeiger“, der größten und führenden Zeitung in der Stadt. Dadurch entstand ein Beziehungsgeflecht, das mir öfters von Nutzen war und insgesamt mein Selbstbewusstsein förderte, da auch meine Mutter in diesem Sinne agierte. Wo immer ein Problem auftauchte, wurde der Redakteur informiert! Im Hintergrund stand die unausgesprochene Drohung: „Der bringt das in der Zeitung“, womit die sogenannte „Lokalspitze“ gemeint war, ein Format, das man heute als Leitartikel auf der ersten Seite des Lokalteils findet.
Schon als kleiner Junge kam ich öfters in der Zeitung, z.B. auf einem Foto als Kind an einem Marktstand, eigentlich recht sinnfrei, aber mit einem kleinen erläuternden Text unter dem Foto. Später, als Gymnasiast, wurde ausführlich mit Fotos über unsere Schultheateraufführungen berichtet, bei denen ich auch in Hauptrollen vertreten war, z.B. als „Bluntschli“ in Shakespeares „Der Widerspenstigen Zähmung“. Öfters riefen Bekannte und Freundinnen meiner Mutter an und fragten nach, ob man dies und das, was sie bewegte oder ärgerte, nicht „in der Zeitung bringen“ könne. Hin und wieder fand man dann diese Geschichten unter dem Kürzel „og“ als „Lokalspitze“ im Reutlinger Generalanzeiger wieder. Eine dieser Geschichten passierte in unserem eigenen Haus:
Wir waren Anfang der 60er-Jahre in ein neu gebautes Haus am Georgenberg gezogen. Nach ein paar Jahren ging eine Platte des Elektroherdes in der Küche kaputt und ein Elektriker kam zur Reparatur ins Haus. Dabei stellte er fest, dass der Herd, welcher für 220 Volt-Betrieb vorgesehen war, an 380 Volt Starkstrom angeschlossen war! Meine Mutter, die vorher mit Gas gekocht hatte, sagte, sie habe sich schon immer gewundert, wie lange es dauert, bis auf ihrem Elektroherd das Wasser kochte, hatte dies aber auf den Unterschied von Gas- und Elektroherden zurückgeführt.
Dies war ein gefundenes Fressen für eine satirische „Lokalspitze“, in welcher auch der Hersteller des Herdes, die Firma AEG erwähnt wurde. Am Rande bekam ich mit, dass AEG sich beim Reutlinger Generalanzeiger beschwerte und wohl verunglimpft fühlte. Aber das stärkte nur unser Selbstbewusstsein!
Auch als Schüler am Johannes-Kepler-Gymnasium kam mir die Position meines Vaters zugute. Als er noch Chef der Sportredaktion war, kannte er natürlich meine Sportlehrer, die auch in den diversen Vereinen aktiv waren. Obwohl ich zum Leidwesen meines Vaters kein großer Sportler war, konnte ich im Sportunterricht immer mit der Note 2, schlimmstenfalls mit einer 3 rechnen. Im Geräte- und Bodenturnen, ein Steckenpferd meines Sportlehrers Gorg Böhler, genannt „Körperschorsch“, war ich eine absolute Null, bekam aber „fürs Bemühen“ bei den Übungen immer die 3! Mein späterer Fahrlehrer Feuerlein war ein ehemaliger Fußballspieler des SSV Reutlingen und so brauchte ich nur wenige Fahrstunden bis zur Fahrprüfung (s. auch das Kapitel „Ich fahre Auto“). Bereits in der ersten Fahrstunde auf dem Opel Rekord war sein Kommentar: „Herr O., Sie können ja schon fahren“!
So hatte ich mit 17 1/2 Jahren die Fahrprüfung erfolgreich bestanden und vor unserem Haus wartete schon eine BMW Isetta auf ihren Einsatz. Ich musste noch bis zu meinem 18. Geburtstag am 21. Juli auf die Ausgabe des „Lappens“ warten, also holte mich ein Freund, der schon den Führerschein hatte, zuhause ab, setzte sich ans Steuer und an der nächsten Straßenecke tauschten wir die Plätze. Der sehnsüchtig erwartete 21. Juli war da, gleichzeitig der letzte Schultag vor den Sommerferien. Im Volkspark neben der Schule wartete ein Fass Bier auf uns, um den Ferienbeginn gebührend einzuläuten. Nach Schulschluss um 10 Uhr fuhr ich erwartungsvoll mit dem Moped auf das Reutlinger Landratsamt, um meinen Führerschein abzuholen: „Leider können wir Ihnen Ihren Führerschein heute nicht aushändigen, er liegt im Stahlschrank und uns ist dessen Tür zugefallen, und der Schlüssel liegt innen im Stahlschrank!“ Meine natürliche Reaktion war, sofort meinen Vater in der Zeitungsredaktion anzurufen und ihn zu bitten beim Landratsamt Druck zu machen. Eine Stunde später hatte ich meinen Führerschein, ein Schlosser hatte die Tür des Stahlschranks geöffnet. Mein Vater recherchierte, dass das Landratsamt turnusmäßig einen Schlosser beauftragte, welcher die zugefallenen Türen der Stahlschränke öffnen musste. Heute weiß ich allerdings nicht mehr, ob daraus einmal eine „Lokalspitze“ im Reutlinger Generalanzeiger geworden ist…
Ich konnte mit Führerschein auf meinem Moped nach Hause fahren, schnappte die Isetta und fuhr damit zur Schuljahresabschlussfeier mit Bierfass im Volkspark. Mit wieviel Promille ich anschließend nach Hause fuhr, kann ich nicht sagen, aber bei und galt die Faustregel: Mit drei Halben Bier kann man noch locker fahren!