Madame T.’s Kneipe befand sich in einer kleinen Seitenstraße der Wilhelmstraße. Man flanierte den üblichen Weg vom Marktplatz die Fußgängerzone hoch, an der Eisdiele „Laz“ und der Marienkirche vorbei und bog nach ca. 500 Metern rechts in die Nürtingerhofstraße, ein Gässchen, in dem schiefe, alte Häuschen ineinander verschachtelt standen. Etwas weiter im hinteren Teil des Gässchens sah man rechts die Eingangstür zu „Madame“, wie das Lokal überall genannt wurde.
Madame Tibièrges hieß mit Vornamen „Emma“, eine Schwäbin, die einen französischen Besatzungssoldaten, ihr „Hänsle“, geheiratet hatte, der im ersten Stock des Lokals als Koch fungierte und die Speisen mittels eines ratternden Aufzugs in das eigentliche Lokal im Erdgeschoss beförderte. Der winzige Raum bestand aus einer Theke und etwa vier bis fünf Tischen für jeweils maximal vier Personen. Die Beleuchtung war schummrig und hinter der Theke stand die wasserstoffblondierte Emma, die ich einige Male mit dem begeisterten Ausruf:„Oh, was mein Hänsle wieder Schönes für mich gekocht hat!“ erlebte, wenn sie aus der Aufzugsklappe ein herrlich duftendes französisches Gericht herauszog, das Jacques, so hieß „Hänsle“ eigentlich, für sie zubereitet hatte. Ebenso innig wie ihr „Hänsle“ (Wenn wir ins Kino gehen, halten wir auch heute noch die ganze Zeit Händchen) liebte Madame ihren schwarzen Pudel, der sich meist im Obergeschoss bei Jacques aufhielt.
In Reutlingen ging das Gerücht, Madame sei früher Puffmutter gewesen und es habe einen direkten unterirdischen Gang vom Rathaus in ihr Lokal gegeben. Mein Großvater, Redakteur beim Reutlinger Generalanzeiger, soll Madame gut gekannt haben, was sich mir zumindest teilweise bestätigte, wenn Madame in meiner Gegenwart von ihm schwärmte, was für ein feiner Mann er gewesen sei. Da er vor meiner Geburt von den französischen Besatzungssoldaten als Geisel erschossen worden war, konnte ich dies leider nicht am lebenden Objekt bestätigen.
Madame war in vieler Hinsicht eine Anlaufstelle: Wenn ich als 15-Jähriger anstatt zum Badmintontraining zu gehen, für welches mich mein Vater zwangsangemeldet hatte, die zwei bis drei Stunden außer Haus überbrücken musste, besuchte ich Madame. Wenn ich zusammen mit Freunden die nicht nur in unserer Fantasie erotisierte und halbseidene Atmosphäre genießen wollte, nahmen wir einen Cocktail bei Madame. Sie haute Geschichten und Anekdoten raus, die uns wirklich ansprachen: „Also stellen Sie sich vor, das saß ein junges Pärchen genau an dem Tisch, an dem Sie jetzt sitzen. Nach einer Weile bestellen sie noch was zu trinken, ich gehe zum Tisch und rutsche auf was Glitschigem auf dem Boden aus, fast wäre ich hingefallen!“ Wir wussten sofort, was die beiden am bzw. unter dem Tisch getrieben hatten!
Ein weiterer Grund, zu Madame zu gehen, war, Mädchen gefügig zu machen! Von K.O.-Tropfen und ähnlichem hatte man in den 1960er-Jahren noch nichts gehört und der eigene Charme reichte oft nicht ganz aus, zudem waren die Mädchen für unseren Geschmack manchmal etwas zu zurückhaltend. Ansonsten hätten wir sie ja nicht zu Madame zu schleppen brauchen. Diese Besuche liefen immer nach demselben Schema ab: Madame begrüßte die Begleiterinnen überschwänglich freundlich und in ihrem Wortschwall schlug sie wie nebenbei vor, einen „Spezialcocktail“ zu servieren. Woraus dieser genau bestand, habe ich nie erfahren, es hat mich auch nicht interessiert, aber er schmeckte ausgezeichnet, mit einer Grundnote von Ananas und Pfirsich, schön dekoriert mit Fruchtstückchen. Madame servierte den Mädchen den Cocktail mit den Worten: „Wenn Sie den jetzt ex austrinken, bekommen Sie von mir den nächsten umsonst!“ Komisch, aber fast alle gingen darauf ein. Der Nachteil der ganzen Aktion bestand darin, dass wir die Mädchen oft mühsam aus dem Lokal schleppen mussten, vor dem sie sich spontan auf die Straße übergaben. Somit waren wir übers Ziel weit hinaus geschossen, trotzdem starteten wir diese Aktion immer wieder, weil es einfach Spaß machte, das Gefühl, sich mit einer Ex-Puffmutter zu verbrüdern um ein Mädchen rumzukriegen.
Einmal war ich mit meiner Freundin Carmen, in die ich bis über beide Ohren verliebt war, bei Madame. Carmen hatte zu meinem Leidwesen schon angekündigt, dass sie unbedingt noch den letzten Bus in den Vorort, in dem sie wohnte, bekommen müsse, ansonsten gebe es Riesenstress zuhause. Zusammen mit Madame und ihren Spezialcocktails gelang es mir, die Abfahrtszeit des Busses in Carmens Kopf zu annullieren, was aber leider in herzzerreißende Tränen, die über Carmens Wangen kullerten, mündete. Auf Madames Nachfrage erklärten wir die Situation und spontan, wie sie immer war, schlug Madame vor:„Dann fahren Sie sie doch mit meinem Auto nach Hause!“ Sie hielt mir ihren Autoschlüssel hin und wenig später fuhren Carmen und ich in Madames Mercedes Richtung Ohmenhausen, wo Carmen noch rechtzeitig eintraf, um Ärger zu vermeiden. Ich war 16 und hatte natürlich keinen Führerschein, aber das spielte keine Rolle. Autofahren konnte ich perfekt dank unzähliger Schwarzfahrten mit meinen Schulkameraden im DKW meines Vaters, aber das ist eine andere Geschichte…